„Ein Siegelring ist schwer zu zeichnen:
Den höchsten Sinn im engsten Raum...”

Johann Wolfgang von Goethe

Sphragistik – Siegelkunde

Mein Dissertationsprojekt beschäftigt sich mit Siegeln und bewegt sich so zu großen Teilen im Bereich der Sphragistik oder Siegelkunde. Diese galt lange – im Rahmen der sogenannten Historischen Hilfswissenschaften – als etwas „verstaubt“.
Zunehmend werden Siegel aber als wichtige Quellen für die Geschichtswissenschaft gesehen, die verstärkt herangezogen werden. So gewinnt auch die Sphragistik wieder an Aktualität. Deshalb möchte ich diese Wissenschaft hier näher vorstellen:

• Sphragistik
  von griech. sphragis: Zeichen,
  dt. Bezeichnung: Siegelkunde
  
  
• Siegel
  von lat. signum: Zeichen und dessen Verkleinerungsform sigillum: kleines Zeichen
  
  
• Diese „kleinen Zeichen“ wurden bereits im alten Orient sowie in der griechischen und römischen Antike verwendet. Gleichzeitig werden bis heute Dokumente mit einem Amtssiegel beglaubigt, ohne das ein Seminarschein wie auch eine notarielle Beglaubingung keine Gültigkeit hätte.
  
  
  
• Verwendet wurden Siegel vor allem für drei Zwecke:
  
  a) als einfaches Erkennungszeichen: Konnte sich beispielsweise ein Bote mit einem losen Siegelabdruck seines Auftraggebers ausweisen, so zeigte er sich von diesem legitimiert.
  
  
  

  b) als Verschlussmittel von Briefen oder auch Warensendungen (wie hier ein Lederbeutel mit Probemünzen): So konnte sichergestellt werden, dass diese nicht unbemerkt geöffnet wurden.

  Abb. in: Diederich, Toni: Die alten Siegel der Stadt Köln, Köln 1980, S. 10.

  
  

  c) als Beglaubigungsmittel von Urkunden: Urkunden waren (und sind) erst dann gültig und rechtswirksam, wenn sie besiegelt sind.

  Stadtarchiv Soest Abt. 1 Nr. 8333

  
  
  
• Vor allem diese dritte Verwendungsform wurde im Mittelalter immer wichtiger: bis hin zum Kaiser konnten nur wenige Menschen schreiben. So war eine „Unterschrift“ im heutigen Sinne nicht möglich.
  
  
• Im Mittelalter führten erst der Papst und der Kaiser Siegel, dann – ab etwa dem 10./11. Jahrhundert – zunächst auch geistliche Fürsten, also Bischöfe und wichtige Äbte, dann aber auch weltliche Fürsten. Ab dem 12. Jahrhundert waren auch Städte, dann auch Grafen und Edelherren Siegelführer; ab dem 13./14. Jahrhundert schließlich auch Bürger.
  Siegel waren das entscheidende Beglaubigungszeichen im Mittelalter, genauso aber auch in der Neuzeit und sind dies, wie oben gesagt, bis heute geblieben.
  
  
  
• Ein Siegelstempel von heute wird zwar meist mit Stempelfarbe auf das Blatt aufgedruckt, aber nach wie vor ist ein solcher Siegelstempel rund, wie es im Mittelalter die häufigste Variante war, und er trägt Bild und Umschrift:
  
  Das Material damals war zum einen Metall. Metallsiegel wurden „Bulle” genannt, vom lateinischen Ausdruck für Metallsiegel: bullum.
  Die Könige und Kaiser verwendeten für besondere Urkunden Goldsiegel, das war das Vorrecht der Souveräne in ganz Europa. Der Papst verwendete immer (und bis heute) Bleibullen.
  
  Das am häufigsten verwendete Material aber war Bienenwachs, farblos (eben wachsfarben) oder – seit dem 12. Jahrhundert in Mode – gefärbt: schwarz, grün oder rot.
  
  
• Das Wachs wurde erwärmt und das Siegelbild dann eingedrückt und zwar mit Hilfe des Siegelstempels.
  In der Antike hatte dieser oft Ringform: ein Siegelring. Im Mittelalter wurden dann Platten aus Metall oder Stein (besonders schön: Elfenbein) verwendet, mit einem Griff aus Holz. Der Fachterminus für diesen Siegelstempel lautet Typar oder Petschaft. Hergestellt wurde er von Goldschmieden.
  
  
• Das Wachssiegel wurde ursprünglich auf die Urkunde aufgedrückt. Das aber war auf die Dauer unpraktisch, weil es sehr leicht wieder abfiel und leicht beschädigt wurde, wenn man die Urkunde rollte.
  
  

  Deshalb wurde das Siegel ab dem 11./12. Jahrhundert angehängt: Ein Faden oder ein Pergamentstreifen wurde an der Urkunde befestigt und Siegelwachs von vorne und hinten am Faden oder Pergamentstreifen aufgedrückt.

  Siegel an Stadtarchiv Soest Abt. A Nr. 3917 - Vorderansicht

  Siegel an Stadtarchiv Soest Abt. A Nr. 3917 - Rückansicht

  
  
  
• Auf diese Weise war auch Platz, an einer Urkunde eine ganze Reihe von Siegeln anzubringen: die der Aussteller der Urkunde und die von Personen, die das Rechtsgeschäft bezeugten. Besonders eng „drängen” sich die Siegel an dieser Urkunde von 1464:
  
  

  Abb. in: Ewe, Herbert: Schiffe auf Siegeln, Bielefeld 1972, S. 32.

  
  
• Bedeutende Siegelführer wie der König, die Reichsfürsten oder dann auch die Städte hatten zunehmend mehrere Siegel, je nach Art der Urkunde, je nach Art des Rechtsgeschäfts:
  
  a) Besonders wichtigen und bedeutenden Urkunden war das sogenannte „Große Siegel“, das sigillum maius vorbehalten.
  Bei den Kaisern und Königen des Heiligen Römischen Reiches war auf dem „Großen Siegel“ immer der Herrscher auf dem Thron abgebildet: das sogenannte Majestätssiegel.
  
  b) Für weniger wichtige Geschäfte entstanden kleine Siegel, da gab es dann manchmal sogar mehrere, je nach Art des Rechtsgeschäfts:
  Das häufigste, für die laufenden Geschäfte verwendet, war das Geschäftssiegel oder sigillum ad causas. Es gab aber zum Beispiel auch Siegel für die Verwendung speziell vor Gericht oder speziell für Vertragsabschlüsse.
  
  c) Das Sekretsiegel, ursprünglich als Verschluss-Siegel für Briefe verwendet, um eben das Geheimnis, das secretum des Briefes zu bewahren, wurde später, im 12. und 13. Jahrhundert zunehmend auch anders eingesetzt, nämlich als sogenanntes
  
  d) contrasigillum, Rücksiegel:
  Die Gefahr bestand ja immer, dass man eine Urkunde fälschen wollte; um das zu erschweren, wurde auf die Rückseite (also auf das Wachs "hinter" dem Faden) noch ein weiteres, kleineres Siegel eingedrückt.
  Eine Urkunde war jetzt erst rechtswirksam, wenn beide Siegel angebracht waren, das „Große Siegel“ vorne und das Rücksiegel hinten. Eine Siegelfälschung wurde nun auch dadurch erschwert, weil beide Typare getrennt aufbewahrt wurden.
  
  
  
• Wie auch schriftliche Zeugnisse stellen Siegel für die Geschichtswissenschaft Quellen dar, die über die Vergangenheit berichten. Diese Quellen können ausgewertet werden.
  
  
• Siegel müssen deshalb zunächst in Bild und Umschrift beschrieben werden, um sich genau zu vergegenwärtigen, was dort zu sehen ist:
  Ein Siegel bietet ein Bild auf kleinstem Raum. Es ist nicht viel Platz, etwas darzustellen, aber der vorhandene Platz wurde von den Siegelstechern genutzt: alle Feinheiten in der Darstellung können deshalb wichtig sein.
  
  
• Danach kann die Interpretation des Siegels, die Auswertung dieser Sachquelle erfolgen.
  
  
• Dabei können einzelne Details des Siegelbildes als Belege dafür dienen, dass bestimmte architektonische Bauformen, bestimmte Kleidungs- oder Rüstungsstücke oder auch bestimmte Schiffstypen, die auf den Siegeln abgebildet sind, zur Zeit, aus der, und an dem Ort, von dem das jeweilige Siegel stammt, verbreitet waren. So stellen Siegel Quellen für die Kunst- und Architekturgeschichte, für die Kostüm- und Militärgeschichte sowie für die Mittelalterarchäologie dar.
  
  Insgesamt bieten Siegel auch wichtige Erkenntnisse für die Rechts- und Verfassungsgeschichte:
  Ein Siegel ermöglichte es dem Siegelführer, selbst Urkunden zu beglaubigen und auszustellen. Der Siegelführer konnte damit – modern gesprochen – als eigenes Rechtssubjekt auftreten.
  Die Geschichtswissenschaft kann daraus ableiten, welchen Status eine bestimmte Person, aber auch ein Kloster oder eine Stadt, die ein Siegel führten, im rechtlichen und gesellschaftlichen Leben innehatte.
  
  Aber auch zu neueren Fragestellungen der Geschichtswissenschaft, wie zu Fragen nach symbolischer Kommunikation, können Siegel einen wichtigen Beitrag leisten:
  Durch die sorgfältige Interpretation der Bilder kann viel über das Selbstverständnis des Siegelführers in Erfahrung gebracht werden. Wie verstand er sich selbst und was wollte er über sich aussagen, wenn er eine für die Öffentlichkeit bestimmte Urkunde mit diesem Siegel versah?
  
  
• So stellen Siegel eine wichtige, weiterführende und neue Horizonte erschließende Quelle für die Geschichtswissenschaft dar.

Ausgewählte Literatur:

• Brandt, Ahasver von: Werkzeug des Historikers, Stuttgart – Berlin – Köln 15. Aufl. 1998, S. 132–148.
• Diederich, Toni: Kleine Siegelkunde mit besonderer Berücksichtigung der rheinischen Städtesiegel, in: Ders.: Rheinische Städtesiegel (Rheinischer Verein für Denkmalpflege und Landschaftsschutz (Hg.), Jahrbuch 1984/85. Rheinische Städtesiegel) Neuss 1984, S. 25–150.
• Diederich, Toni: Quellenwert und Bedeutungsgehalt mittelalterlicher Städtesiegel, in: Archiv für Diplomatik, Schriftgeschichte, Siegel- und Wappenkunde 23 (1977) S. 269–285.
• Kittel, Erich: Siegel (Bibliothek für Kunst- und Antiquitätenfreunde 11) Braunschweig 1970.
• Stieldorf, Andrea: Siegelkunde. Basiswissen (Hahnsche Historische Hilfswissenschaften 2) Hannover 2004.

Einige interessante Links zur Sphragistik:

• Einführung in die Sphragistik des Fachs „Historische Grundwissenschaften und Historische Medienkunde” an der Ludwig-Maximilians-Universität München
• Linksammlung zur Sphragistik der „Virtual Library Geschichtliche Hilfswissenschaften”

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Letzte Änderung: 1. Juli 2018